Marion - TM

Marion,
53, V.a. postinfektiöse myelitis seit 09.05.08 meine erkrankung

am freitag vor pfingsten fängt es an: in der dusche schwindelig. in der arbeit tun beim sitzen die füße sehr seltsam weh. auf dem heimweg – ein starker salziger geschmack* im mund, als hätte man gerade einen zahn verloren.

beim einkaufen in der schlange an der kasse wird der rechte oberschenkel taub.

nach hause, auspacken. es wird schlimmer. meine nachbarin monika fährt mich in die praxis schützenstrasse, dann flugs ins marienkrankenhaus schwerte. dort hocke ich zusammengekrümmt im rollstuhl und nehme abschied von der welt, weil ich glaube zu sterben, zu ersticken. die erste frage nach zusatzpolicen lässt mich kalt und zeigt mir die welt, wie sie eben ist. ein ökonomisches system – rundum.

der internist in der notaufnahme am 09.05.08 gegen 18 uhr fragt mich:

was fehlt Ihnen denn eigentlich? ich kann nichts finden?

ich habe taubheit bis in die rippen...

ich werde auf der chirurgie geparkt als möglicher bandscheibenvorfall. dies bis dienstag ohne weitere diagnostik, denn es ist ja schliesslich pfingsten. wer wird vor feiertagen krank? nur ganz doofe.

werde mit würzburgern und sonstigen schmerzmitteln behandelt. alles im betroffenen bereich tut trotzdem weh. als wäre die haut abgezogen, die füße, die beine, der bauch, der po. ich fühlte mich wie aufgepumpt. ich denke, der hintern würde abreissen. dann aufstehen? geht nicht mehr. das rechte bein baumelt haltlos im nichts. ich kann nicht mehr zur toilette, jedenfalls nicht mehr normal. ich meine zu platzen und ich schreie nach dem katheter, 1200 ml laufen in den beutel. von diesem moment an kann ich nur noch auf den toilettenstuhl gehievt werden, um wasser zu lassen, ich fühle am bauch, wenn die blase voll ist. im liegen kann ich nicht. stuhlgang ist nicht möglich. ich bekomme bifi und zäpfchen und „kratz“ mich leer. die örtlichen verhältnisse sind nicht toll. denken muss ich nicht mehr. im unterbewusstsein geht es. frühstück, mittag, abendessen, warm, sicher, trocken. die überall ewig rastlosen schwestern sind mein halt. der körper macht, was er will – man versucht mich zu trösten. meine arme liegen auf der decke auf dem bauch, den ich nicht mehr spüre, die beine scheinen übereinander zu schweben. mir wächst ein schwanz aus dem steiss. so fühlt sich das an. visite(n). rätselraten? IHREM BLUTBILD NACH SIND SIE EIN KERNGESUNDER MENSCH! na, das baut doch auf.

am 5. tag wird das erste mrt gemacht. ich habe keine kraft mehr, um auf den mrt tisch zu kommen. kein chirurgischer befund. schmerzmittel, schlafmittel. gleichgültigkeit – ich beginne, neben mir zu stehen. mein mann ist fix und alle. --- das nächste mrt am mittwoch – nichts zu finden, was auf einen zu operierenden bandscheibenvorfall hindeuten könnte.

als mein mann in schwerte anfragt, ob ich denn wohl richtig läge, da auf der U-1, da meint man dann mir ggü., dass es wohl besser wäre, mich zu verlegen. möglicherweise handele es sich um ein PSYCHOSOMATISCHES PROBLEM, ob mein mann oder ich einen vorschlag machen kann, wohin mit mir.
von diesem moment an – von donnerstag nach pfingsten an – sucht mein mann im internet referenzkliniken für neurologie. es muss was neurologisches sein... das meinen wir mal so als laien. er schlägt knappschaft bochum und dortmunder klinikum der station in schwerte vor. freitag nachmittag sagt mir der assistenzarzt, dass man kein freies bett weder hier noch da für mich hätte. ich telefoniere mit meinem mann, ohne handy ist man mit den althergebrachten telefonverhältnissen in krankenhäusern erledigt – mein mann telefoniert mit bochum: nichts. mein mann telefoniert mit dortmund gegen 17.00 uhr freitags direkt mit prof. schwarz:

lassen Sie Ihre frau bringen, ich kümmere mich, so und so soll es lassen Sie Ihre frau bringen, ich kümmere mich, so und so soll es abgewickelt werden. wir halten ein bett frei. //danke professor!!//

mein mann ruft in schwerte an, der assistenzarzt tritt mit gerunzelter stirn an mein bett:

was haben Sie nur für einen mann, der hat Ihnen ein bett besorgt in dortmund. aber heute können wir Sie nicht verlegen, das müsste die 112 machen, das ist uns ZU TEUER. morgen fahren Sie mit den malthesern.... die kosten die hälfte.

ich denke nicht mehr. ein neurologisches konzil, wie es mir seit dienstag dort angekündigt wird, findet nie statt, denn wenn der herr professor im hause ist, sitze ich in der radiologischen abteilung und warte auf meine abholung. ich kann ja nicht laufen. ich sitze da, wie die omas, die vor dem altenheim in die sonne gestellt werden....

am 16.05.08 erfolgt meine verlegung nach dortmund mit dem hindernis, dass man zunächst nach nord fährt, aber dort ist die neurochirurgie. also wieder rein ins auto, mit den lahmen beinen und dem schmerzenden hinterteil und weitergeruckelt durch die schönsten winkel einer abgehalfterten stadt...

in mitte erwarten mich 2 ärzte, OA dr. spitzer und dr. möter. an diesem samstag werde ich manuell durchgecheckt und erhalte von beiden die übereinstimmende diagnose: verdacht auf postinfektiöse myelitis. reversibel??? ja – wir gehen davon aus. (ich hatte ende märz bis eine woche in den april hinein einen virusinfekt mit bronchitis und fühlte mich sehr schlecht auch lange danach noch.)

darauf folgen noch 5 verschiedene diagnostische massnahmen - am samstag, es ist eine akutklinik.

ich bekomme ein bett in einem 2-bett-zimmer, die mitpatientin ist ziemlich depressiv. fortgeschrittene MS ... ich bin auf schmerzmittelentzug und verspanne mich bis in die letzte faser. kriege tetrazepam.

ich erhalte den klinik-patienten-vertrag, denn ich bin in einer ggmbh, in einer gemeinnützigen gmbh. ich habe zu befinden, ob ich mich im falle meines ablebens obduzieren lassen möchte. liebe leute – in diesem moment finde ich einen derartigen wisch wie einen schlag ins gesicht! ich sehe die kostenaufstellungen und die rahmen der fallpauschalen. für meinen fall wird wohl ordentlich gelöhnt. da will ich mal ganz ruhig sein.

einige tage drehen sich meine gedanken nur um stuhlgang. auf dem hintern, auf dem ich nicht mehr sitzen kann, ich nenne ihn fortan PÜRZEL, lasten ein paar kg verdauter reste. mit bittersalz und einer entleerung auf einem toilettenstuhl, die mich auf der kacke sitzen lässt, und einem erschrockenen pflegeschüler, der mir den hintern putzen und waschen muss, erlebe
ich wieder einen unvergesslichen tag.

in dieser alten abteilung sind klo und dusche nur mit rollstuhl-sprints zu erreichen.

da ich erste rückbildungserscheinungen zeige, so kann ich zum beispiel nach ca 14 tagen wieder bleistiftminen als stuhlgang vorweisen, verzichtet man auf kortison und alles andere. man vertraut bis heute komplett den selbstheilungskräften... oder ist es auch eine art
ratlosigkeit?... meine haare fallen beim bloßen sitzen aus. heparin, wie ich später höre...

nach 2 wochen weiterer diagnostischer massnahmen mit prozessanalysen von liquor und blut und mrt erlebe ich noch eine verlegung innerhalb des klinikums. die alten neurologischen stationen werden geschlossen und ins haupthaus verlegt mit dem positivum: alles 2-bett-zimmer mit toilette und dusche. mit dem negativum: aus 3 werden 2 stationen mit dem personalschlüssel von 2 stationen. die schwestern laufen auf kaputt-touren. ich denke nicht mehr, ich werde gelebt. die schwestern wahrscheinlich auch...

ich mag nicht die gehetzt und ratlos erscheinenden grünen, die mE destruktiv wirken können. dafür schätze ich in dortmund den evangelischen „popen“, der erfreulich erfrischend, aufmunternd, mut machend rüberkommt und nicht so auf betroffenheit macht wie die grünen omas.

ab woche 2 im krankenhaus bekomme ich in der physiotherapeutischen abteilung wesentliche
unterstützung durch physio, ergo und massage. mein dank an euch alle!! wunderbar. ich lebe! es fühlt sich scheisse an. aber ich kann es wenigstens spüren und nehme minimalste veränderungen wahr und in mich auf. bei rückschlägen krieg ich mein schmelzlein unter die zunge, tavor – wenn ich mich recht entsinne, und ich werde etwas entspannter. nicht so
entspannt ist die situation, mit „hundertjährigen“ zusammengelegt zu werden. tavor habe ich im ganzen vierteljahr ca. insgesamt 10 stück bekommen, also keine angst ertragen!! einen sogenannten stimmungsaufheller /cipramil/ habe ich nicht toleriert, ich hätte paradox darauf reagiert – steht im bericht, das gehirn wurde meinem gefühl nach heiss. nach anderthalb stück wurde der test beendet. man wird doch wohl 20 min am tag weinen dürfen.

endlich – am 10.06.08 – geht es in die reha nach hagen-ambrock. hier verbringe ich 7 wochen,
um mich weiter mobilisieren zu lassen. getreu dem wort von prof. schwarz:

„wir bringen Sie wieder ans laufen!“
ausgangspunkt für die anwendungen sind: spastik extrem, schlafen oft nur mit tabletten, balance halten ganz schlecht, ohne rollator geht es nicht.

ich lasse mir von meinem mann petunien für den traurigen balkonkasten mitbringen. es läuft der rest der fussball EM und es läuft das leben auf einer insel in einer anderen welt.

ich erhalte das ganze programm. es gibt kein programm für myelitis, dafür ist diese zu selten. ein bader rät mir zu 23 tagen saftfasten, warum 23 tage? zu schwer bin ich tatsächlich...

anwendungen sind u. a.:

• einzelphysio
• krafttraining
• ergometer
• wassergymnastik täglich! super!!
• sprudelbad
• teilbad füße täglich
• koordinationstraining
• malen
• psycho
• progressive muskelentspannung

ich habe zwischen 4 und 7 massnahmen pro tag, es schwankt nach beginn der
haupturlaubszeit, auch medizinisches personal muss sich mal regenerieren dürfen...

man sollte – was ich auch erst später lerne – abwägen, was man sich an massnahmen an einem tag zumuten kann. macht man zuviel, kann das zurückwerfen, macht man zuwenig – dann auch. man kann jederzeit zur stationssekretärin oder zum therapeuten selbst gehen und sich entschuldigen, das wird eingetragen im pc, und die kasse oder der rentenversicherungsträger haben nichts zu meckern. nach einem schwächeln nach anderthalb
wochen mit halbem tag am tropf habe ich dies begriffen.

ich habe mich immer an die worte des professors gekrallt und auch an die erklärung meines mannes, den urlaub in der schweiz nicht aufzugebenden und habe diese 7 wochen zur brücke in mein zweites leben gemacht. von dem einen durchhänger in woche 2 abgesehen - kann ich sagen, dass mir diese reha ermöglicht hat, dem jahr 2008 noch ein paar positive seiten abgewinnen zu können, ich liste das ganz einfach auf, wer mir in der ganzen zeit besonders
helfen konnte:

• mein mann, der ein vierteljahr das fähnlein hoch hielt und trotz eigener knieoperation und tinnitusbehandlung in genau dieser zeit mich nie hat hängen lassen
• meine kinder, die mich regelmäßig besuchten und meinem mann zur hand gingen
• monika rasch, meine nachbarin, die mir wieder einmal half und immer da ist, ein engel
• prof. schwarz, neurologie des klinikum dortmund mitte, der ruhe und vertrauen gibt und mut, denke ich... und OA dr. dittmar. kein kommunikationsrekordhalter, der sachlich aufbauende.
• die assistenzärztin der N4 in dortmund mitte. auch ein engel, weil sanft!!
• frau dr. koch und frau dr. sleimann: ein erfrischendes gespann in ambrock, mit
leider zuwenig zeit

(wen ich von den „weisskitteln“ vergessen habe, verzeihe mir, es waren zuviele..)

• schwester bärbel – meine klinikschwester und für mich eine freundin
• martina rediger – die einzige kollegin, die mich besucht hat und mit mir telefoniert hat
• susanne gallert – meine erste bettnachbarin, reizend. lieb. so optimistisch.
• kati lippman – meine zweite bettnachbarin. sportlich, unverzagt. lebendig.
• ralf kötter – der ultimative physio.
• das restliche team, und es ist tatsächlich eines!!!
• die entchen, die nun gross geworden sind am wunderschönen teich im klinikgelände
• die cafeteria, die uns einen hauch vom normalen leben gab

nach der reha war ich mit ärztlicher zustimmung 2 wochen in der schweiz, wo ich die erfahrung machte, dass man weitestgehend die krankheit vergisst beim laufen mit 2 stöcken, erst 500 m und dann jeden tag mehr. ich konnte ein familienbad nutzen mit 34 grad celsius im aussenbecken. dazu ein paar übungen aus dem „kötterprogramm“, die ich entspannung vor dem einschlafen nennen möchte.

an dieser stelle noch mein dank an dr. backhaus, meinen hausarzt, der mir das ermöglicht hat.

jetziger stand am 04.09.08

restspastik, 2 fassreifen, noch sensibilitätsstörungen im gesamtbereich, besonders an den füßen und besonders abends.
ansonsten schleicht es sich so. und meistens bin ich gut drauf. ich trinke auf anraten von den noch schlimmer kranken cistustee von dr. pandalis, habe immer cranberry saft im kühlschrank und cranberries getrocknet da, denn harnwegsinfektionen lassen die spastik erstarken. ich esse neuerdings joghurt mit müsli zum frühstück, was ich vor 4 monaten noch aus dem fenster
geworfen hätte. der physiotherapeut findet die sogenannten defizite und hilft mir, die beine „wieder gerade zu kriegen“ --> zu empfehlen: herr karkoszka.

was mich berührt hat:

in der schweiz habe ich im karonlingischen kloster in müstair einen dankeszettel hinterlegt und ein unbekannter freund hat für mich in jerusalem einen zettel in die klagemauer gesteckt.

lassen wir zu, woran wir oft nicht mehr glauben, weil es andere leute sagen... und obwohl ich eigentlich meine, sehr wenig religiös zu sein, erlaubt mir ausnahmsweise mit einem psalm zu enden:

„von allen seiten umgibst du mich und hältst deine hand über mir.“

Marion

  • salziger geschmack bei störungen des ZNS wird u. a. beschrieben bei thomas haeberle. beim lesen eines
    heftchens über die nützliche verwendung von olivenöl bin ich zufällig auf diese passage gestoßen und konnte es
    in die vorplenkelein zu meiner krankheit einordnen. es war ein deutliches zeichen und sollte m. E. ins
    vorwarnsystem eingehen!!